Ferdinand Blumentritt und José Rizal im Spannungsfeld ethnologischer Forschungen

Ein kurzer Rückblick auf das Wiener Symposium vom 6. Dezember 2023 von Dietrich Harth

Ethnologische Forschungen heute beschränken sich nicht auf die synchronistische Beschreibung und Interpretation partikularer Kulturen bzw. Gesellschaften. Sie blicken vielmehr auf das Zustandekommen sowie auf den Wandel regionaltypischer, auch traditionaler Lebensformen unter den Bedingungen kolonialistischer Gewalt sowie postkolonialer Transformationen. Prof. Hermann Mücklers Vortrag entlang der spanischen Kolonisierung der mikronesischen Inselwelt (incl. Karolinen & Marianen) galt der wachsenden Bedeutung Manilas als Drehkreuz für den interkontinentalen Handel und Austausch sowie der Gewalt der Kolonialherren gegenüber den auf manchen Inseln Mikronesiens aufflammenden antikolonialistischen Aufständen.

Das alles hatte auch weitreichende Folgen für die Philippinen, worauf Prof. Dietrich Harth und Dr. Johann Stockinger in ihren kurzen, auch im Folgenden auf Ferdinand Blumentritt (1853-1913) und José Rizal (1861-1896) verweisenden Interventionen aufmerksam machten. Rizal beklagte die Opfer, die seine zwangsverpflichteten Landsleute im Dienst der spanischen Krone, vor allem im Militärdienst bei der Niederschlagung von Aufständen zu bringen hatten. Auch die demütigende Zurschaustellung der Bergvölker des Archipels sowie der Bewohner der Marianen und Karolinen während der Exposición de Filipinas des Jahres 1887 in Madrid erregte mit Recht seinen Zorn. Und schließlich gerieten während des Streits zwischen Deutschland und Spanien um den Besitz der Karolinen (1884ff.) sowohl er als auch Blumentritt ins Visier der spanischen Denunzianten. Beide wurden als „Agenten“ Bismarcks angeschwärzt und mussten sich publizistisch in der „glühenden Arena,“ schrieb Rizal, „wo wir für die Rechte der Menschheit fechten“, zur Wehr setzen.

Ethnologie (Völkerkunde) und physische Anthropologie gehörten zur Zeit Blumentritts und Rizals zu den aufstrebenden Wissenschaften. Ihre Verwicklungen in die Aneignungs- und Ausbeutungspolitiken der damaligen Kolonialmächte bilden heute ein Gutteil des selbstkritisch aufzuarbeitenden Wissenschaftserbes. Dr. Marie France Chevron und Dr. Peter Rohrbacher stellten zwei Gründungsfiguren der Ethnologie ins Zentrum ihrer Vorträge, die sich beide – jeder auf seine Weise – der Suche nach kulturellen Universalien gewidmet hatten. Disziplinäre Grenzen waren in der Gründungsphase des 19. Jahrhunderts hingegen noch kein Thema.

Marie France Chevron porträtierte den Berliner Gelehrten Adolf Bastian (1826-1905), Mitbegründer der bis heute bestehenden Zeitschrift für Ethnologie und des Berliner Museums für Völkerkunde (Teil des Humboldt Forums). Sie erläuterte Bastians zwischen Theorie und Praxis vermittelndes Wissenschaftskonzept und skizzierte dessen Kritik an der spekulativen Kulturverbreitungstheorie (Diffusionismus) des Anthropogeographen Friedrich Ratzel (1844-1904). Blumentritt kannte die Genannten. Rizal legte er nicht nur das Studium von Ratzels Völkerkunde (1885ff.) nahe, er öffnete dem Freund auch mit einem Empfehlungsschreiben die Tür zu der von A. Bastian und Rudolf Virchow (1821-1902) gegründeten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.

Auch Peter Rohrbachers Vortrag war wissenschaftshistorisch fokussiert. Er befasste sich mit dem Gründer der Wiener Ethnologischen Schule, dem Missionar und Religionswissenschaftler Wilhelm Schmidt (1868-1954), der die nach wie vor lebendige Zeitschrift Anthropos gegründet hat und eng mit dem Vatikan liiert war. Suchte Bastian nach universalhistorisch relevanten Strukturen der Kognition (sog. Elementargedanken), ging Schmidt von der Hypothese religiöser sowie linguistisch kodierter Urformen des Monotheismus aus. Diese Hypothese, eine aus katholischer Voreingenommenheit geborene Spekulation, wirkte – anders als Bastians Theorie – nachhaltig Schule bildend. Bei den Adepten hieß es, der Ethnologe gewinne genauere Erkenntnis über die zu erforschenden fremden Lebensformen, wenn er sich an die Zeugnisse der Missionare und nicht an die Protokolle empirischer Forschungen halte. Kurios ist die Rolle, die Ferdinand Blumentritt in diesem Zusammenhang spielte: Sein 1882 veröffentlichter Versuch einer Ethnographie der Philippinen wurde knapp 100 Jahre später in englischer Übersetzung in einem philippinischen Verlag als ein angeblich von „aktuellen“ Forschungsergebnissen beglaubigtes Werk neu aufgelegt. War es nicht Blumentritt, der sich über die „Irrtümer und Illusionen“ der in ihren Voreingenommenheiten befangenen „Halbgötter“ lustig gemacht hat?

Blumentritt und Rizal waren keine Antikolonialisten, sondern forderten Dekolonisierung zugunsten von Rechtstaatlichkeit und Selbstbestimmung, ohne die Inselwelt des Archipels vollständig vom „Mutterland“ lösen zu wollen. Sie diskutierten den Rassebegriff, kritisierten die mit diesem Term einhergehenden Diskriminierungen und unterschieden sich mit dieser Einstellung kaum von den Berlinern A. Bastian und R. Virchow. Rizals Verhältnis zur Ethnologie der Europäer war ambivalent. Denn er schätzte zwar die Vorteile musealer Konservierung der vom Kolonialismus bedrohten Kulturen, hatte aber auch Zweifel am positivistischen Fortschrittsglauben wissenschaftlicher Erkenntnis. Mit Blumentritt war er sich einig, rassistisch auftrumpfender Kulturchauvinismus europäischer Kolonialismus-Apologeten verdiene den schärfsten Widerspruch.

Mit Dr. Camilo Antonios Vortrag kam eine Seite Rizals zur Sprache, die der Redner als „cultural heroism“ bezeichnete. Heroen verkörpern große, wegweisende Ideen und heischen Bewunderung. Rizal verkörpert in der staatlich geförderten, identitätspolitisch aufgeladenen Mythologie der Philippinen die Ideen der Revolution und der nationalen Einheit. Antonios Vortrag indes konzentrierte sich bewusst auf Rizals literarisches Schreiben als eine Form öffentlich eingreifenden Denkens. Dieses richtete Rizal nicht nur gegen die spanische Willkürherrschaft, sondern aufklärend auch an seine eigenen Landsleute. Den Mut zur Kritik am Rassenwahn und am Missbrauch der Religion entwickelte Rizal in den Jahren seiner europäischen Diasporaexistenz, im Umgang mit dem liberalen Katholiken Blumentritt und nicht zuletzt durch die ihm von deutschen Anthropologen – A. Bastian, Fedor Jagor, Adolf Bernhard Meyer, R. Virchow u.a. – entgegengebrachte Anerkennung.

Dietrich Harth, 15.12.2023
Der Autor würde sich über ein Feedback freuen: dietrich.harth@gs.uni-heidelberg.de

Die einzelnen Vorträge des Symposiums:

Spanische Kolonisierungsbestrebungen im Pazifik: Manila als Zentrum einer spanisch dominierten mikronesischen Inselwelt. Univ.-Prof. Dr. Hermann Mückler, Universität Wien

Die deutschsprachige Ethnologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: (gesellschaftliche und wissenschaftliche) Streitfragen im Kontext der zunehmenden Professionalisierung.
Univ.-Doz. Dr. Marie-France Chevron, Universität Wien

Blumentritt und Rizal im Gespräch zwischen Dietrich Harth und Johann Stockinger

Shifting the lens on Rizal’s heroic activism. Dr. Camilo Antonio, Österreichisch-Philippinische Gesellschaft

Die Wiener Schule für Ethnologie und die Erforschung der sogenannten Altvölker auf den Philippinen.
Dr. Peter Rohrbacher, Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Siehe dazu auch:
Verleihung der Ferdinand-Blumentritt-Medaille für hervorragende Leistungen und persönliches Engagement im Bereich der Philippinen- und Südostasienforschung an Dietrich Harth.